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Verwitterte Ziegel, dunkle Fenster hinter verrosteten Metallgittern, hier und da gebrauchtes Holz. Jeden Tag blicke ich von meinem Schreibtisch aus durch Grün auf eine alte Hinterhof-Bäckerei. Doch der verwilderte Schein trügt. Der Ort ist alles andere als verlassen, die Fenster sind nicht vergittert, sondern stehen weit offen – konzeptionell. Eines von ihnen trägt einen fröhlich geschwungenen Veranstaltungshinweis. Die Bäckerei ist heute die »Bakery«; die Bochumer haben einen Jazzkeller. Und sie »haben« ihn tatsächlich: weil hier Urbanismus wie Jazz gemacht wird – wer kommt, spielt mit.

Zwei Stockwerke unter meinem Schreibtisch sei die Idee geboren worden, bei einer Party vor neun Jahren, erzählt mir Palo Tomko, Bakery-Gründer, Musiker und mein Vermieter. Die Party-Idee klingt besser als meine Party-Ideen, klingt richtig gut: Dass ein Haus mehr sein kann, als eine Wertanlage – ein Impuls. Oder, musikalisch: ein Auftakt, englisch upbeat, da schwingt der Optimismus dann gleich mit. So entstand das Kunstkiez Bärendorf. Da wo einst die Party war ist nun das Atelier der Bochumer Künstlerin Uta Hoffmann, darüber wohnen Schauspieler:innen. Nebenan eine Bar mit kunterbunter Fassade und veganem Essen. Und oben drüber schreibe ich drüber und blicke dabei auf die alten Ziegel. Vor drei Jahren wurden sie zur Bakery – und werden es noch.

Palo hat sich die langen grauen Haare aus dem Gesicht gebunden, war den Tag über auf der großen Baustelle, die die Bakery in der Pandemie gerade ist und auch in Zukunft immer ein bisschen sein wird: Nie fertig, wie der Jazz. Die geschickten Pianistenhände macht Palo sich gerne schmutzig. Früher hat er Software entwickelt, eine eigene Firma gegründet, Geld gemacht, das er heute in seine Projekte steckt, irgendwann musste er da raus. »Was zurückgeben«, sagt er. 1970 war er mit seinen Eltern aus der Tschechoslowakei nach Deutschland geflohen, politisches Asyl, seit 30 Jahren lebt er in Bochum, ist gut vernetzt.

Jetzt ist das Kunstkiez entstanden, entsteht noch immer, mittendrin die Bakery, in einem kleinen Bochumer Ortsteil, den niemand auf dem Schirm hatte. Im Schatten des sehr viel kultigeren Ehrenfeld mit Schauspielhaus, im Schatten der Kneipen ums Bermuda3Eck. Mit seinen Mitstreiter:innen bemüht sich Palo um Förderungen und die Einbindung der Nachbarschaft, stößt Projekte an, musiziert natürlich. Lässt ansonsten die Dinge einfach laufen und freut sich über überraschende Ergebnisse. »Anarchisch«, sagt er und lacht. Aus dem Proberaum ist ein Probierraum geworden. Erst aus dem Zusammenspiel entsteht das neue, nicht nur beim Jam, sondern auch in der Stadt.

Mit Erfolg. Wenn Leben, Stadt und Musik gerade nicht durch Lockdowns verriegelt werden, kommen hier vielerlei Menschen mit vielerlei Hintergründen zusammen, die vielerlei Instrumente beherrschen, buchstäblich wie metaphorisch. Palo erzählt, dass manchmal selbst Profimusiker nach ihren Gigs noch in der Bakery vorbeischauen, um dort aus der Pflicht wieder das Spiel zu machen. Er freut sich darauf, wieder loszulegen. Denn das Spiel braucht seine Mitspieler, die Musik braucht ihr Publikum, die Stadt ihren informellen Urbanismus – und ihren Jazz.

Fotos & Text: Arno Stallmann