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„Wir haben eine Anti-Vision, eine Anti-Realität geschaffen.“ Auf einem Erdhügel am Ufer der Alten Emscher im Duisburger Norden hat der Künstler Julius von Bismarck gemeinsam mit der Architektin Marta Dyachenko das Modell einer Stadt errichtet – aus Gebäuden, die es nicht gibt. Nicht mehr jedenfalls. An zwei Miniaturstraßenzügen ziehen sie sich den erdigen Hügel hinauf: der Wohnturm aus Bergkamen, der Schulkomplex aus Essen, das Hallenbad aus Marl, die Kirche aus Duisburg, das Kraftwerk aus Dortmund, der Bunker aus Oberhausen – allesamt in ihrem jeweiligen Kiez schon Geschichte.

Insgesamt 23 Gebäude haben von Bismarck und Dyachenko im Maßstab 1:25 nachgebaut. Dazwischen flanieren Neugierige und Kunstkenner, umrunden die Modelle, befühlen die Waschbetonreliefs und versuchen da und dort, durch die winzigen Plexiglasscheiben einen Blick ins Innere zu werfen, als hofften sie dort auf eine Weiterführung der Szenerie. Wenige Schritte vom Kunstort entfernt donnert der Verkehr über die Brücke der A42 und liefert den urbanen Soundtrack zum Werk, das Teil des Emscherkunstwegs ist, einer Route durch das nördliche Ruhrgebiet mit nun insgesamt 19 öffentlich zugänglichen Positionen.

Fast alle der Gebäude, die sich in der ‚Neustadt‘ des Künstler-Duos en miniature wiederfinden, stammen als Originalbauwerke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die meisten aus den 1960ern und 1970ern, einer Zeit, in der grenzenloses Wachstum möglich schien und die Architektur Ausdrucksformen für eine sich wandelnde Gesellschaft suchte. Die Fantasien ihrer ursprünglichen Schöpfer spiegeln sich in ihren ausladenden Ausmaßen, in geometrischer Struktur, in kühner Formensprache. Dennoch haben sich von Bismarck und Dyachenko bei der Auswahl nicht von ästhetischen Kriterien leiten lassen. „Wir wollten einen repräsentativen Querschnitt des lokalen Städtebaus abbilden. In der Vorbereitung haben wir untersucht, welche Art von Gebäuden in den letzten Jahren dem Abriss zum Opfer gefallen sind, und mit Blick auf die Typologie repräsentative Vertreter ausgewählt, Bildungsstätten beispielsweise, Bunker oder Bäder“, erläutert Dyachenko. „Zwar suggeriert die Modellhaftigkeit der Häuser ein Planungsstadium, in Wirklichkeit jedoch gehören die Gebäude bereits der Vergangenheit an.“

„Es geht nicht um eine retrospektive Verklärung eines bestimmten architektonischen Stils.“, ergänzt Julius von Bismarck. Sozialgeschichtliche Parallelen und Unterschiede zwischen der Ruhrregion und seiner Heimatstadt Berlin regten den 38-Jährigen zu einer Auseinandersetzung mit der Ruhrgebietsarchitektur an. „Beide Regionen sind deutlich vom Wandel geprägt. In Berlin wird viel gebaut und manches abgerissen. Im Ruhrgebiet wird manches gebaut und vieles abgerissen.“ In Summe, so von Bismarck, führt beides zu starken Veränderungen. „Der ökologische Fußabdruck der Bauindustrie ist zu groß. Wir sollten darüber nachdenken, was wir bauen – und was wir abreißen. Was wir unter Denkmalschutz stellen – und was wir umnutzen können.“

Dennoch ist die Neustadt nicht nur Mahnmal der schwindenden Ressourcen, sondern auch Zeugnis eines euphorischen Wachstumsglaubens. Der Beton der Boomjahre, er schien durchaus für die Ewigkeit bestimmt. Als wolle man dem Reichtum ein unverwüstliches Zuhause schaffen. Das dann mancherorten zum Mausoleum wurde.

Drei Jahre haben die Architektin und der Künstler mit der Recherche und dem Bau der Modelle verbracht, zum Teil war ein 14-köpfiges Team in von Bismarcks Berliner Studio am Werk. Die Frage, wie die Gebäude an ihren Bestimmungsort, den Landschaftspark Duisburg-Nord gelangen sollten, stand lange Zeit im Raum. Bis man schließlich auf die rettende Idee kam: Die Stadt sollte schwimmend die Republik durchqueren! Eine Woche dauerte die Fahrt mit dem Lastkahn. Mit zehn Kilometern pro Stunde wurde die Stadt von der Spree in den Duisburger Hafen transportiert. So wurde der logistische zu einem performativen Akt, mit „entschleunigender Wirkung“, so die Urheber. Ein Filmteam war mit von der Partie fing die poetische Reise der Gebäude mit der Kamera ein. Der Film soll im Herbst dieses Jahres fertig sein. „Dann kann die Idee auf Reisen gehen“, sagt von Bismarck.

Und die Neustadt? Sie wird unterdessen im Grün versinken. Die Natur darf und soll sich ihren Platz zwischen den Gebäuden zurückerobern. Julius von Bismarck, dessen Arbeiten stets um die Beziehung von Mensch und Natur kreisen, baut auf die Wechselwirkung der Skulpturen mit den wachsenden Wildpflanzen und die sich damit verändernden Größenverhältnisse. Daraus könnte ein symbolträchtiges Bild entstehen. Wächst da in Duisburg vielleicht doch eine Vision? Eine Blaupause für die umgenutzte, grüne Stadt von morgen?

Fotos & Text: Ilona Marx
Fotos: Emscherkunstweg/Holtgreve