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Vera Vorneweg ist die Hoffnung der Düsseldorfer Literaturszene. 2022 hat sie unter dem Titel „Kein Wort zurück“ ihr erstes Buch veröffentlicht. Sie hat mit literarisch-künstlerischen Arbeiten im öffentlichen Raum aufhorchen lassen. Und Ende November bekommt sie den Förderpreis Literatur der Stadt Düsseldorf verliehen.

Eigentlich waren wir für 11 Uhr zum Gespräch verabredet. Kurz vorher fragt die Schriftstellerin per SMS an, ob es möglich wäre, eine halbe Stunde nach hinten zu verschieben: „Dann kann ich noch frühstücken.“ Um halb zwölf sitzt sie dann im „Skotti’s“ – satt, aber müde. Am Vortag ist sie erst spät von einer Lesung aus Erfurt zurückgekommen. Auf dem Weg nach Düsseldorf hat sie noch bei einem Konzert im Künstlerhaus Dortmund Halt gemacht. Die 37-Jährige nippt an ihrem Cappuccino, der die Restmüdigkeit vertreiben soll: „Viel los gerade.“ Bei Vera Vorneweg ist immer viel los. Seit sie sich 2018 entschieden hat, ihren Job an der Hochschule Düsseldorf aufzugeben und sich voll auf das Schreiben zu konzentrieren, treibt sie die Schriftstellerei mit einer bewundernswerten Kraft und Konsequenz voran –

und hat dabei oft das Glück, besondere Orte aufzuspüren, die richtigen Leute kennenzulernen und für ihre Arbeit zu begeistern. Auf dem Weg nach Erfurt gab es wieder so eine Begegnung, die sich als hilfreich erwies. Im Zug hat die Schriftstellerin einen Geschäftsmann aus Thüringen kennengelernt, der gerade aus Dubai kam und dem in der thüringischen Landeshauptstadt mehrere Immobilien gehören. Vorneweg hatte ihm einen Kaffee aus dem Bordbistro mitgebracht, „ich kann ja nicht nur mir was holen“. Damit ging es los. Man kam ins Gespräch. Am Ende hatte sie seine Visitenkarte. Ergebnis: Im April nächsten Jahres wird Vorneweg das Tor eines historischen Hauses in Erfurt beschriften – „mit einem Text, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit mischen“.

Spielautomaten und Hochkultur

Die Bedienung im „Skotti’s“ bringt einen Kiba. Den kann man in der Bar in Düsseldorf-Oberbilk 24 Stunden am Tag bekommen. Das „Skotti’s“ ist rund um die Uhr geöffnet. Es liegt im hinteren, bahnhofsfernen Teil des Quartiers, an der Kreuzung Kölner Straße/Markenstraße. Die Szenerie dort ist maximal lebendig. Hinter den großen Fensterscheiben brummt dichter Verkehr über die Kölner Straße, gegenüber der Bar wird Gemüse verkauft. Über den Auslagen an der Häuserwand prangt eine riesige Werbetafel, über die ununterbrochen Spots und Nachrichten flimmern. Drinnen hocken Männer beim Schach oder Backgammon – oder einfach nur beim Kaffeeplausch. Seit Mai 2022 füllt Vorneweg das „Skotti’s“ regelmäßig mit literarischem Leben. Für ihre Reihe „Kunstkiosk“ lädt sie Autor:innen der konkreten und visuellen Poesie in den Nachtgestalten-Treff. Dass in direkter Nachbarschaft der klimpernden Spielautomaten Hochkultur stattfinden soll, scheint auf den ersten Blick unmöglich – aber wie vieles andere hat Vornweg auch das geschafft. Gerhard Rühm ist ihrer Einladung gefolgt. Safiye Can ebenso. Auch für 2023 sind wieder drei Leseabende geplant. Über die Veranstaltungen ist Vorneweg Teil der eingeschworenen Gemeinschaft vor Ort geworden. Die Gäste und Angestellten des „Skotti’s“ suchen ihre Nähe, umarmen sie herzlich, setzen sich an unseren Tisch und möchten mit Vorneweg sprechen, auch wenn es in manchen Fällen keine gemeinsame Sprache gibt. „Wer war das denn noch mal?“, überlegt sie einmal, als der Besucher weitergezogen ist. „Ach ja, das ist der Herr, der hier saubermacht.“

Spielerischer Umgang mit Sprache

Vera Vorneweg hat schon immer geschrieben, „aber das sagen ja viele von sich“. Als Jugendliche Tagebuch, später Gedichte. Mittlerweile fühlt sie sich eher in der Prosa beheimatet, in den langen Texten. Dabei gefällt ihr der Gedanke, keine Geschichte erzählen zu müssen: „In der Literaturszene werden ja nur noch Romane und Erzählungen veröffentlicht. Der spielerische Umgang mit Sprache gerät dabei zunehmend in den Hintergrund. Ich für mein Teil habe gerne ein Thema und kreise es mit Sprache ein. Dabei habe ich gar nicht den Anspruch, dass eine Geschichte entstehen muss.“ Seit einigen Jahren schreibt Vera Vorneweg ihre Texte nicht mehr ausschließlich auf Papier. Sondern auch auf Baumstümpfe, Steine, Container oder Rollläden. Die Idee, Orte im öffentlichen Raum zu beschriften, kam ihr bereits vor Beginn der Pandemie. Sie unternahm erste zaghafte Gehversuche, experimentierte mit unterschiedlichen Untergründen: „Ich wollte ausprobieren, wie es ist, nicht auf Papier zu schreiben.“ Die erste Fläche, auf die sie ihre filigranen Buchstaben mit einem Acrylstift aufbrachte, war ein Baumstamm im Eller Forst. Später beschrieb sie einen großen Stein, direkt am Rheinufer, in der Nähe des Fortuna-Büdchens. Auch auf eine Wand der Hall of Fame an der Vennhauser Allee brachte sie Text auf. Der war allerdings innerhalb von einer Woche schon wieder übersprüht. „Dass das so schnell ging, fand ich natürlich schade.“ An den anderen Arbeiten aus Anfangstagen hat ebenfalls der Zahn der Zeit genagt: „Bei dem Baumstamm lässt sich zumindest noch erkennen, dass da mal Text drauf war. Aber die Geschichte ist nicht mehr lesbar. Die Schrift sieht mittlerweile eher aus wie Schimmel.“

Wie ein Schwamm

Als Corona Veranstaltungen in Innenräumen zunehmend unmöglich machte, verstärkte Vorneweg ihre Aktivitäten im Außenraum. Im Sommer 2021 entstand „Ellerstraße/Oberbilk“. Auf den braunen Rollläden der geschlossenen Oberbilker Kneipe „Zum Blauen Bock“ schuf Vorneweg eine leise, zarte Arbeit, für die sie Szenen aus dem Viertel festgehalten hat. Acht bis zehn mal war die Schreibende vor Ort, auf der Ellerstraße, immer zu unterschiedlichen Uhrzeiten: „Morgens passiert ja etwas anderes als abends oder mittags.“ Sie saß vor dem Hauseingang, mit Notizbuch und Füller, und erwartete mit größtmöglicher Offenheit die Dinge, die da kamen. „Alles, was passierte, konnte für mich von Interesse sein.“ Mit ihrer zugewandten Art kam sie natürlich schnell mit Passanten ins Gespräch: „Viele Menschen haben sich mir geöffnet, mir intimste Erlebnisse erzählt. Lebensgeschichten, Brüche, Schicksale. Ich war wie ein Schwamm, konnte einfach nur aufsaugen.“ Als Vorneweg genug gesehen und gehört hatte, wurden die handschriftlichen Notizen digitalisiert, sprachlich in Form gebracht, lektoriert und letztendlich aufgetragen. Und so finden sich nun Schnipsel aus den persönlichen Gesprächen auf den Rollläden wieder. „Meine Streetpoesie ist ein niedrigschwelliges Angebot“, erklärt Vorneweg. „Von der Straße für die Straße. Es gibt keinen Zwischenhändler. Es muss nicht bezahlt werden. Es muss noch nicht mal gelesen werden. Anschauen reicht.“

Künstlerischer Protest

Mittlerweile hat Vera Vorneweg Düsseldorf drei Arbeiten vermacht, besser zweieinhalb. Neben der bereits erwähnten gibt es eine zweite in Oberbilk, ebenfalls auf Rollläden, in dem Fall denen eines geschlossenen Kiosks gleich neben dem „Skotti’s“. Dazu kommt ein unvollendetes Werk: Auf einen der Container am Stadtstrand an der Oberkasseler Brücke hat Vera Vorneweg nach dem Beginn des Kriegs in der Ukraine angefangen, Bertha von Suttners Friedensmanifest „Die Waffen nieder!“ aufzutragen. 50 von 300 Seiten Text hat sie seit März geschafft, der Container ist zur Hälfte beschriftet. Es passt zum Menschen Vera Vorneweg, dass sie es nicht bei dieser Form des künstlerischen Protests gegen den Krieg belässt, sondern parallel auch tatkräftig hilft. Für drei Monate nahmen sie und ihre Familie vier geflüchtete Ukrainer bei sich auf, zwei Frauen und zwei Kinder. Mittlerweile sind die Gäste nach Kiew zurückgekehrt. Aber die Erfahrung, den Krieg im eigenen Wohnzimmer gehabt zu haben, wird für die Schriftstellerin und ihre Familie bleiben. In einer Zeit, in der Waffenlieferungen mehrheitsfähig geworden sind, ist Vorneweg nach wie vor kompromisslose Pazifistin. Sobald die Stadtstrand-Saison im kommenden Frühjahr startet, möchte sie mit der Arbeit am Container fortfahren. Ziel sei es, bis Ende 2023 das komplette Werk von Bertha von Suttner in den öffentlichen Raum zu bringen, erklärt die Schreiberin: „Es wird ja häufig darüber gesprochen, wie Männer den Krieg erleben. Mit dieser Arbeit möchte ich die weibliche Perspektive sichtbar machen, zeigen, wie sich Krieg und Gewalt auf die Frauen auswirken, weniger physisch und mehr psychisch.“ Dafür sei das Werk der Friedensnobelpreisträgerin von Suttner, das Tagebuch einer Soldaten-Witwe, perfekt geeignet.

Wort an Wort

Während sie so erzählt und dabei aus jeder Pore Begeisterung atmet, geht vor dem „Skotti’s“ ein heftiger Regenschauer nieder. Vier Stunden dauert unser Gespräch mittlerweile an. Für Vorneweg nichts Ungewöhnliches. Sie hat immer viel zu erzählen. Weil immer viel passiert. Manchmal fragt man sich, wie all das, was sie macht, denkt, plant und umsetzt in die 24 Stunden passt, die der Tag ja nun mal nur bereithält. Vorneweg präferiert für ihre literarische Arbeit ohnehin die Nacht. Wenn alles um sie still geworden ist, wenn ihre beiden Kinder im Bett sind, dann sitzt sie in dem ausgebauten Spitzboden, der ihr als Arbeitszimmer dient, und reiht Wort an Wort. Schreibt Konzepte. Förderanträge. Literarische Texte. Und Mails. Viele elektronische Textnachrichten gingen zuletzt zwischen Düsseldorf-Eller, wo Vorneweg wohnt, und Israel hin und her. Dort war sie im Frühjahr schon mal im Rahmen eines Arbeitsaufenthalts. Und dort reist sie im Herbst 2022 erneut hin, um mit Unterstützung des Goethe-Instituts ein Projekt zu realisieren. „Zusammen mit einem israelischen Schriftsteller werde ich in Nahariya die Bühne der Yama Street Gallery beschriften. Ich beginne oben links auf Deutsch, er unten rechts auf Hebräisch.“ Wenn die Arbeit in Nahariya geschafft ist, reist Vorneweg weiter in die Negev-Wüste. Dort, unweit der Grenze zu Ägypten, möchte sie einen Stein mit Worten veredeln. Der entsprechende Text ist bei ihrem Israel-Aufenthalt im Frühjahr entstanden.

Natürlich sind das noch längst nicht alle Pläne, die die Poetin der Straße hegt. Da wäre noch die Idee mit dem Denkmal, von der sie erzählen will, „aber dann muss ich unbedingt was essen“. Also kurz: Ein Denkmal möchte sie „überschreiben“, Jan Wellem könnte sie sich vorstellen. Auf dessen Abbild würde sie gerne die Biografie einer Frau notieren, die ihm nahestand. Die weibliche Perspektive, auch hier. Das Projekt konkreter zu planen, dazu ist sie tatsächlich noch nicht gekommen. Aber schon in einer der nächsten Nächte könnte es so weit sein. Jetzt muss sie aber erst mal zum Libanesen nebenan. „Ich brauche dringend ein Falafel.“

Vera Vornewegs Arbeiten in Düsseldorf:

„Ellerstraße/Oberbilk“, Zum blauen Bock (geschlossen), Ellerstraße 173 Kölner Straße/Markenstraße, Markenstr. 1 „Die Waffen nieder!“, Stadtstrand Oberkasseler Brücke, Tonhallenufer 2 (Die Stadtstrand-Container werden den Winter über eingelagert. Deshalb ist die Arbeit erst im Frühjahr 2023 wieder zu sehen.)

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